Jüdische Kulturtage Berlin:
Das Berlin der 20er Jahre
Dominique Horwitz und Shelly Kupferberg
Künstlerische Leitung und Künstlerische Beratung
19. Jüdische Kulturtage vom 27. November bis 11.
Dezember 2005
„Der heute kommt und morgen bleibt – das jüdische
Berlin der Zwanziger Jahre“
»Jüdische
Renaissance«, »Goldene Zwanziger«, »Tanz auf dem Vulkan« – das Berlin der
Weimarer Republik schillert in so grellen Farben, dass es schwer fällt,
zwischen Mythos und historischer Wirklichkeit zu unterscheiden.
Insbesondere
das »Jüdische Berlin« ist verzerrt und verklärt. Und dennoch; es ist
beeindruckend, wie jüdische Persönlichkeiten, Künstler, Intellektuelle und
Politiker, aber auch die Welt des Scheunenviertels, der Ostjuden, unser Bild
Berlins der Zwanziger Jahre prägen.
Das Berlin der »Goldenen Zwanziger« und des ersten
deutschen demokratisch verfassten Staates muss in kultureller Vielfalt und
Dynamik Paris, London, New York und Chicago noch übertroffen haben.
Kulturelle Vielfalt, das hieß: neunundvierzig Theater, darunter
dreiundzwanzig große Häuser mit jeweils mehr als tausend Plätzen, drei
Opernhäuser, über zwanzig Musiksäle, zahlreiche Kabaretts und
Kleinkunstbühnen, drei große Revuetheater und drei Varietés,
siebenunddreißig Filmgesellschaften, rund tausend Verlage, staatliche Museen
mit Alter und Neuer Kunst. Ende der zwanziger Jahre erschienen in Berlin
über zweitausend Zeitschriften, vierzig Tageszeitungen, darunter zwei
Mittags- und vierzehn Abendzeitungen.
Das war die kulturelle Atmosphäre, in der viele so produktiv sein konnten;
das galt insbesondere für Juden. Denn zum ersten Mal in der deutschen
Geschichte erlangten sie durch die demokratische Verfassung politische
Gleichberechtigung – das korrespondierte allerdings nicht zwangsläufig mit
der gesellschaftlich-sozialen Situation. Der Antisemitismus war so virulent
und offen wie nie zuvor. Bereits zu Beginn der Republik existierten
vierhundert völkische Organisationen und fast doppelt so viele
antisemitische Zeitungen. Im November 1923 fand im Scheunenviertel ein
Pogrom statt, bei dem neun Menschen ermordet, viele verletzt und an die
hundert Geschäfte verwüstet wurden, ganz zu schweigen von den Morden an Rosa
Luxemburg, Kurt Eisner und Walter Rathenau. Politisch wurde der
Antisemitismus bekämpft, doch gesellschaftlich und kulturell war er
relevant. Gerade auch in Berlin.
Trotzdem: Ende der zwanziger Jahre lebte jeder dritte Jude Deutschlands in
Berlin, 1925 waren es 173 000 Juden, etwa 4,3 Prozent der Berliner
Gesamtbevölkerung. Die Metropole zog viele an: Aus Bayern kamen Arnold Zweig
und Lion Feuchtwanger, aus Hessen Siegfried Kracauer, aus Wien Arnold
Schönberg und Joseph Roth, aus Prag zeitweise Franz Kafka, Egon Erwin Kisch,
aus Osteuropa Marc Chagall, Alexander Granach u.v.m. Schillernde
Persönlichkeiten wie Else Lasker-Schüler, Alfred Kerr, Elisabeth Bergner,
Max Liebermann, Fritz Lang, Alfred Döblin, Ernst Toller, Kurt Tucholsky,
Mascha Kaléko, Theodor Wolff, Paul Levi, Albert Einstein, Walther Rathenau,
Jakob von Hoddis, Lise Meitner, Walter Benjamin lebten und wirkten hier, und
viele Namen ließen sich hinzufügen. Treffpunkt der Künstler- und
Intellektuellenszene war das »Romanische Café« gegenüber der
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, der »Hexenkessel des großstädtischen
Betriebs.« Die Arrivierten wie Max Slevogt, Rudolf Großmann, Emil Orlik, Max
Oppenheimer und Bruno Cassirer saßen an einem Tisch, Max Reinhardt, Leopold
Jessner am anderen, während sich der Kritiker Herbert Ihering Notizen
machte. Alfred Polgar, Friedrich Hollaender, Erich Mühsam, Bertolt Brecht,
George Grosz, John Heartfield, Herwarth Walden und andere rauchten,
diskutierten und dichteten. Dies war die eine Wirklichkeit der Großstadt:
unfassbare Produktivität und Kreativität.
Die zweite Wirklichkeit fand sich zwischen Rosenthaler- und Alexanderplatz:
um die Mulack-, Weber-, Landsberger-, Linien- und vor allem Grenadierstraße
im Osten und den Quartieren jenseits von Potsdamer Tor und Landwehrkanal im
Westen. Für das deutsch-jüdische Bürgertum im alten Westen mit Schocken,
Wertheim, Tietz bedeutete das Scheunenviertel und dessen mittelose Juden,
die Krieg und Pogrom in Osteuropa in die Spandauer Vorstadt trieb, ein Ort
der Scham. Gleichwohl faszinierte diese Welt, die reiche, beseelte jiddische
Sprache und Kultur diejenigen, die auf der Suche nach authentischem Judentum
waren: Arnold Zweig, Joseph Roth und Alfred Döblin schrieben über die
Ostjuden, den Fremden, »der heute kommt und morgen bleibt«, wie der
Soziologe Georg Simmel schrieb.
Was bleibt vom »Jüdischen Berlin«? Ein Bild großer sozialer, kultureller und
politischer Heterogenität. Die diesjährigen Jüdischen Kulturtage widmen sich
dem Berlin der Weimarer Republik. Lesungen, Theateraufführungen, Konzerte
stehen auf dem Programm, das den verschiedenen Wirklichkeiten dieser Zeit
gerecht werden will und spannen gleichzeitig einen Bogen in das Hier und
Jetzt.
Dazu gehört die Aufführung von Bertolt Brechts und Kurt Weills
Mahagonny-Songspiel, in dessen späterer Opernversion es heißt: »Erstens,
vergeßt nicht, kommt das Fressen/Zweitens kommt der Liebesakt/ Drittens das
Boxen nicht vergessen/Viertens das Saufen, […] Vor allem aber achtet scharf/Daß
man hier alles dürfen darf. (Wenn man Geld hat).«
Vielleicht wurden diese Verse im »Romanischen Café« diskutiert – das Berlin
der Zwanziger Jahre mit seiner Modernität, seinen Gegensätzen, seinem Luxus,
seiner Armut, seinem Tempo bleibt ein Faszinosum.
Lange Nacht der Synagogen 2005:
Auch in der Synagoge Fraenkelufer
Gottesdienste, Besichtigungen, Konzerte und Gespräche...
Fotoausstellung:
Aspekte der Zwanziger Jahre
Die Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts machen den
eigentlichen Mythos von Berlin aus. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs
und seines festgefügten, militärisch und aristokratisch bestimmten
Wertesystems wird Berlin zur Kulturmetropole...
Jüdische Kulturtage Berlin:
Nachtschatten und
andere Gewächse
Ausstellung der Künstlergruppe Meshulash, 27. November bis 11. Dezember
2005...
Jüdische Kulturtage Berlin:
Das Berlin der 20er Jahre
Das Berlin der 20er Jahre fasziniert bis heute. Und es lädt dazu ein, zu
verklären...
Der heute kommt und morgen bleibt:
Das jüdische Berlin der 20er Jahre
19. Jüdische Kulturtage vom 27. November bis 11. Dezember
2005...
Jüdische Kulturtage:
Interview mit Dominique Horwitz
Die „Goldenen“ 20er Jahre stehen im
Mittelpunkt der diesjährigen „Jüdischen Kulturtage“. Eine höchst kreative
wie produktive Phase Berliner Kultur. Man denkt, das sind die „goldenen“
Zwanziger und in dem Wort „golden“ ist das Wort „wild“ und „überbordend“
natürlich inbegriffen... |