Zuwanderer aus den
ehemaligen GUS-Staaten
- ihre Erwartungen und die Realitäten in der jüdischen Gemeinde
Teil 2 (von 2 Teilen / 1.Teil
hier)
Von Judith Kessler
Mitschnitt eines Vortrags gehalten vor
Sozialarbeitern jüdischer Gemeinden
Überforderung und "Dreifrontenkrieg"
Wir haben uns dabei nicht nur mit den Erwartungen der Neuangekommenen
auseinandersetzen müssen, sondern auch mit denen der alteingesessenen
Klientel. Es gibt eine deutliche Überforderung der Fremdheitskompetenz
oder Toleranz an der Basis der Gemeinden. Wir haben permanent so eine Art
"Zweifrontenkrieg" oder "Dreifrontenkrieg". Mit den Zuwanderern, mit
unserem eigenen Vorständen, und mit den Altmitgliedern. Viele von denen
fühlen sich bedroht, haben Angst, daß ihr Judentum zu 'Russentum' wird,
kümmern sich aber auch nicht darum, daß die Leute etwas lernen und dabei
nicht beschämt werden.
Probleme der "Alteingesessenen"
Sie sagen: Was ist jetzt mit uns; wir konnten hier immer herkommen und
einfach die Tür aufmachen und drei Stunden quatschen. Und jetzt? Ich komme
jetzt überhaupt nicht mehr, weil ich nicht die Ellenbogen habe, mich da
vorbei zu kämpfen an diesen Leuten. Wir werden vernachlässigt, wir werden
benachteiligt, wir werden russifiziert. Ihr kümmert Euch nur noch um die
Russen. Die Russen bekommen die Jobs, obwohl sie gar nicht Deutsch können
und wir bleiben auf der Straße. Und die fordern nur und wollen sofort
alles haben, wofür wir zwanzig Jahre gebraucht haben und die bekommen das
auch alles. Da sind all diese Ängste von Veränderung, von Konkurrenz auch,
von Majoritätsverlusten, von Wer-kriegt-die-Ressourcen: wer kriegt die
Machaneh (Anm: Teilnahme an einer Ferienfahrt), wer kriegt die Wohnung,
wer kriegt den besseren Platz auf dem Friedhof. Und bei den Dingen bleiben
wir dann stecken; über diesen Tellerand hinaus zu sehen fällt den meisten
schwer: Uns sowieso, weil wir täglich mit diesen Dingen beschäftigt sind.
Die Leute kommen ja nicht zu uns, wenn bei ihnen alles funktioniert,
sondern eben, wenn es nicht funktioniert.
Daneben sind wir ja tatsächlich überfordert, strukturell und finanziell,
wir können diese Erwartungen gar nicht bedienen, in manchen Gemeinden will
man sie auch nicht bedienen. Wir können keine Gesetze ändern und Jobs aus
dem Hut zaubern. Das ist auch nicht die Aufgabe einer
Religionsgemeinschaft. Dennoch dürfen wir und genauso die Zuwanderer nicht
übersehen, daß wir unwahrscheinlich viel geschafft haben, daß unser
Sozialnetz inzwischen riesig ist, auch dank ihnen.
Die spezielle Situation in Berlin
(Anmerkung: Berlin ist derzeit die größte jüdische Gemeinde
in Deutschland mit knapp 12.000 Mitgliedern. Davon sind fast 70 % in den
letzten 10 Jahren aus den ehemaligen GUS-Staaten zugewandert. Die meisten
anderen jüdischen Gemeinden in der BRD - etwas über 90 - sind kleinere
Gemeinden von 200 bis 400 Mitgliedern, wobei zwischen 90 % und 100 %
"russische Juden" sind)
Ich kann allerdings nur über
Berlin
sprechen: Wir haben Sozialberatungsstellen, Berufsberatungsstellen,
Jugendberatungsstellen. Wir haben Klubs für Jugendliche, Klubs für
Senioren, für Singles. Wir bieten Kurse an – Computer, Judentum, Deutsch,
Tanzen - alles mögliche, Integrationsseminare, Workshops, Reiseprogramme.
Es gibt eine Jüdische Galerie, wo fast nur Zuwanderer eine Chance haben
auszustellen und sogar eine jüdische Oberschule mit Gymnasium und
Realschulzweig. .
Aber auch das hat wieder zwei Seiten: Einerseits konnte
die Oberschule überhaupt nur eröffnet werden, weil es so viele Zuwanderer
gibt, andererseits leidet der Unterricht. Die GUS-Kinder haben teilweise
große Umstellungsprobleme, die Eltern überlassen der Schule die
Verantwortung, haben aber andererseits gänzlich andere Vorstellungen, was
Disziplin oder Erziehungsmethoden betrifft. Außerdem, und das ist wieder
ein Loyalitätsproblem, denke ich, werden Kinder aufgenommen, die in
anderen Schulen wegen mangelnder Leistungen nicht aufgenommen werden
würden. Wir haben ein
Gemeindehaus, mehrere
Synagogen, einen Kindergarten,
eine Grundschule und eine Volkshochschule, ein Seniorenheim, einen
Sportverein,
Bibliotheken und diverse Ausschüsse, die sich
mit Zuwanderern befassen. Das ist doch alles gigantisch, bei gerade mal
12000 Menschen. Das sind die Rahmenbedingungen, die Hardware sozusagen
Mit den Menschen, mit der "Software" ist es schwieriger. Außer, daß wir
alle jüdisch sind, haben wir doch gar nicht so furchtbar viel gemeinsam.
Und dieses Gemeinsam-Sein oder -fühlen entsteht auch nicht einfach so. Und
wenn einigen Zuwanderern die Gemeinde zunächst nur als so eine Art
psychologischer Anker dient, dann ist das schon viel. Wir sehen doch auch,
daß viele jetzt Brit und Bar-Mizwa machen. Und über Interesse der Alten
können wir uns erst recht nicht beklagen, die kennen das alles noch von
früher und nehmen unsere Angebote auch an. Die Kinder, die in die
jüdischen Schulen und in die Jugendgruppen gehen, bringen das auch mit
nach Hause. Wie oft höre ich, daß die Eltern von ihren Kindern Judentum
'lernen'. Für den Anfang können wir nicht mehr erwarten. Und die, die kein
Interesse haben, na gut, dann eben nicht. Wir sind keine Missionare. Wir
haben ganz andere Probleme. Was machen wir zum Beispiel mit den
nicht-halachischen Juden, mit denen, die wollen, aber nicht dürfen. Die
Kinder von jüdischen Vätern. Darüber muß nachgedacht werden. Zu hause
waren sie Juden, hier sind sie plötzlich Goim oder Russen. Sie denken, sie
sind 'im falschen Film'. Und unsere Rabbiner halten sich vornehm zurück.
(Anmerkung: Nach der Halacha - dem jüdischen
Religionsgesetz - ist Jude / Jüdin, wer eine jüdische Mutter hat oder zum
Judentum übergetreten ist. Viele der Zuwanderer sind nach dieser
Definition keine Juden)
Wenn wir schon bei Definitionen sind: Es fällt uns
selbst doch schon schwer, 'Jüdisch-Sein' konkret zu definieren. Wenn die
meisten Zuwanderer sagen, daß das für sie eine Nationalität ist und keine
Religion, dann müssen wir das erst einmal so hinnehmen. Es ist die
sowjetische Definition, damit haben sie gelebt und aus einem Atheisten
einen Religiösen machen zu wollen, ist absurd. Die Menschen sind jüdisch,
weil es so in ihrem Paß steht, das war ihre 'Identität', sie sind mit
Nichtjuden verheiratet, wissen kaum etwas über unsere Traditionen -
trotzdem sind sie Juden.
Und wenn wir ehrlich sind: wie sieht es denn mit unserem
eigenen Traditionsbewußtsein aus, leben wir etwa koscher, können alle
jiddisch und gehen jede Woche in die Synagoge? Das dürften die wenigsten
sein. Aber wir erwarten, daß die Zuwanderer das tun. Wie oft ist denn zu
hören: "Die sind nicht richtig jüdisch". Über die Reaktionen, die dann
kommen, brauchen wir uns nicht zu wundern: "Ihr seid besserwisserisch,
arrogant, schlimmer als die Deutschen. Glaubt Ihr, wir sind vom Himmel
gefallen oder kommen aus dem Wald?" Ich zitiere nur immer, was Leute mir
so erzählen.
Zwischen Subventionierung und Ablehnung
Wir müssen verstehen, wie schwierig es ist, hier irgendeine Position zu
finden, ich rede noch gar nicht von Identität. Wo sie herkommen wurden sie
einheitlich - als Juden - abgelehnt, das war eindeutig. Hier erleben sie
eine Mischung aus Subventionierung und Ablehnung. Sie wurden 'eingeladen',
hierherzukommen, der Staat bezahlt das tägliche Leben, wenn sie anfangen
anstatt russischer Romanzen jiddische Lieder zu singen, kommen sogar die
Deutschen und klatschen mit.
Anderseits kann es wieder sein, daß sie als Juden irgendwo auf
Diskriminierung stoßen oder noch schlimmer, daß sie eben von uns nicht
ernst genommen werden oder abgelehnt werden. Da ist es oft bequemer, sich
zurückzuziehen oder mit seinem Jüdisch-Sein hausieren zu gehen. Das leben
ihnen viele der einheimischen Juden doch auch vor, oder ständig zu
schreien "alles Antisemiten, die ganze Ausländerpolizei", wenn mal was
nicht klappt oder: "Wenn Ihr mir nicht helft, geh ich zur Kirche", ich
zitiere wörtlich. Diese Mentalität von einer Tür zur anderen zu rennen, muß man genauso aus dem Herkunftskontext der Leute sehen. Man mußte dort
alle Türen abklappern. Und der Erfolg gibt den Leuten auch hier oft Recht.
Hinzu kommt daß sie die hiesige Rechtsprechung als uneinheitlich und
beeinflußbar wahrnehmen, zumal wenn à la UdSSR interveniert wird und das
auch noch funktioniert. Wir versuchen zwar die Sache zu
institutionalisieren: "Du gehst bitte nur zu dem, weil der für dich oder
das dein Problem zuständig ist" – aber das ist kaum zu realisieren; das
erleben wir in allen Gemeinden.
In Berlin haben es zum Beispiel einige Repräsentanten gut gemeint und
bieten neben der Beratungsmöglichkeit durch die Sozialabteilung auch noch
zig eigene Sprechstunden an, ein Integrationsbüro, spezielle Treffen usw.
Und was passiert? Die Leute denken sich, daß ja wohl irgendwas dahinter
stecken muß und laufen mit exakt dem gleichen Problem zu allen. Und was
schlußfolgern die Repräsentanten? Daß ein erheblicher weiterer
Handlungsbedarf besteht, weil jede ihrer Sprechstunde voll ist. Oder sie
wundern sich, wie einer unserer Repräsentanten, der seine Zeit "den
Problemen der Mitglieder mit der Gemeinde" widmen wollte, aber 'nur' mit
aufenthalts-, arbeits- und sozialhilferechtlichen Sorgen konfrontiert
wird. Hier wird klar, daß die Zuwanderer offenbar ganz andere Probleme
haben, als sich über Interna der Jüdischen Gemeinde zu streiten.
(Anm: "Repräsentanten" sind die von den Mitgliedern
der jüdischen Gemeinde gewählten Gemeindevertreter)
Wir haben das auch bei den letzten Gemeindewahlen in Berlin gesehen.
Nachdem bei der vorletzten Wahl noch überhaupt kein Neuzuwanderer
kandidiert hat, waren es im letzten Jahr plötzlich sehr viele.
Durchgekommen ist zwar keiner dieser Kandidaten, möglicherweise haben die
eigenen Leute ihnen den Job nicht oder noch nicht zugetraut und es sind
auch mehr Alte als Neue zur Wahl gegangen, aus Angst nach der
zahlenmäßigen auch noch die politische Mehrheit zu verlieren. Aber was
wesentlich scheint, ist, daß es in den Wahlprogrammen der Neuzuwanderer
fast nie um Religion, jüdische Positionen in der Gesellschaft oder ein
Zusammenwachsen von Alt und Neu ging, sondern um die vermeintlichen oder
tatsächlichen Möglichkeiten der Gemeinde in Bezug auf soziale Aspekte,
also Aufenthaltserlaubnis, Staatsbürgerschaft, Arbeitsplätze in der
Gemeinde usw.
(Anmerkung: Inzwischen ist im März 2001 wieder
gewählt worden. Näheres finden Sie
hier)
Und genauso laufen allen offiziellen Diskussionen ab. Ich
erinnere mich an eine symptomatische Situation, eine Podiumsdiskussion mit
Gemeindevertretern, Arbeitsamtsleuten und Zuwanderern. Da wurde wirklich
stundenlang vom Podium herunter erklärt: Wir können keine Gesetze machen
oder ändern. Wir sind nicht das Arbeitsamt, wir können nur flankierende
Hilfestellungen leisten. Sie müssen trotz Ihrer guten Berufe Ihre
unrealistischen Ansprüche herunter- schrauben und auch Jobs annehmen, die
unter Ihrem Ausbildungsniveau sind. Lernen Sie so gut wie möglich Deutsch,
nur so haben Sie überhaupt eine Chance; jeder Job ist besser als
Sozialhilfe, auch wenn es bequemer ist von Sozialhilfe zu leben usw.
Und kaum sind die Vorträge beendet und es wird zur
Diskussion aufgerufen, springt ein Zuwanderer auf und schreit fast: Warum
gibt mir die Gemeinde keine Arbeit? Ihr redet nur und tut nichts. Der Mann
konnte nicht einmal die Frage nach seinem Namen auf Deutsch verstehen, war
Ingenieur für Elektrik und als solcher wollte er auch Arbeit in der
Gemeinde!
Ich habe keine Lösung, ich konstatiere nur, daß wir ab und zu am
Verzweifeln sind, weil wir das Gefühl haben, an die Wand zu reden oder
keine Resonanz zu bekommen. Es klingt fast absurd: Nach dieser
Podiumsdiskussion hat die Gemeinde eine Jobbörse initiiert; man hat es mit
viel Aufwand und guten Worten geschafft, jüdische Arbeitgeber in Berlin zu
bewegen, Ausbildungsplätze und Jobs zur Verfügung zu stellen. So jetzt
haben wir also diese ganzen freien Stellen, die werden auch brav in
unserer Gemeindezeitung veröffentlicht und was passiert? Entweder sind die
Leute nicht einstellbar, weil ihr Deutsch schlecht ist oder ihre
Qualifikation nicht reicht oder – und das ist viel schlimmer - es meldet
sich niemand für die Stellen oder der Job wird nach drei Tagen
geschmissen, weil er dem Klienten nicht gefällt. Wir sitzen seit Monaten
auf guten Ausbil- dungsplätzen, und es meldet sich kein Mensch. Das ist
unglaublich frustrierend.
Andererseits müssen wir damit leben, daß es restriktive
Berufsanerkennungs- bedingungen gibt wie für alle die Ärzte und wenig
realitätsbezogene Weiter- bildungsangebote, daß die Zuwanderer aufgrund
ihrer Ausbildung ein hohes Anspruchsniveau haben und daß wir teilweise von
falschen Voraussetzungen ausgegangen sind: Wir haben nun mal sehr viele
alte Leute bekommen. Ist es realistisch, sie in den Arbeitsmarkt
integrieren zu wollen? Kaum, auch wenn sie selbst das nicht verstehen und
uns dafür verantwortlich machen, daß sie hier mit Fünfzig zum 'alten
Eisen' gehören.
Zur Situation älterer Zuwanderer
In Berlin sind schon jetzt mehr als vierzig Prozent aller Neuzuwanderer
über fünfzig Jahre alt. Da hilft vermutlich auch keine jüdische Jobbörse
und keine ABM mehr. Und gerade diese Menschen bewältigen den Wechsel aber
am schwersten und leben hier am häufigsten isoliert. Das heißt, wir
sollten uns auf das konzentrieren, was sinnvoll ist: Wir brauchen
russischsprachige Psychologen und Altenhelfer, Altenheime und
Freizeitprogramme. Allmählich haben das ja auch unsere Vorstände
verstanden, in Berlin wird zumindest darüber nachgedacht, den ganzen
Seniorenfreizeitbereich jetzt massiv auszubauen.
Nichtsdestotrotz haben wir bisher nicht richtig
verstanden, den Leuten zu vermitteln, das gilt auch für viele
Alteingesessene, was 'Gemeinde' ist oder sein soll, daß sie staatliche
Verantwortlichkeiten nicht übernehmen kann, daß Mitglieder auch Pflichten
haben und daß 'die Gemeinde' nicht irgendein Abstraktum ist oder eine Kuh,
die man melken kann, sondern daß die Leute selbst 'die Gemeinde' sind und
daß sie mitverantwortlich sind für das, was da geschieht. Für meine
Ehrenamtlichengruppe in Berlin habe ich gerade mal zehn Zuwanderer
gefunden, bei 12.000 Mitgliedern, von denen zwei Drittel aus der GUS sind.
Das ist der Status quo. Und über diese Stufe müssen wir hinaus. Es ist
letztlich eine Zeitfrage, das hat die Einwanderungswelle in den 70er
Jahren gezeigt. Die Menschen brauchen die Zeit. Wir haben auch die andere
Seite: die Leute, die sich engagieren und die vielen, die es bereits
geschafft haben sich einzuleben, die sich sowohl an ihrer Herkunftskultur
als auch an ihren hiesigen Umwelten orientieren, die Arbeit gefunden
haben, ihr Studium abgeschlossen haben.
Das sind uns natürlich die Liebsten, die können wir
einbinden, mit denen haben wir jetzt kaum noch Probleme. Das müssen wir
uns auch immer wieder deutlich vor Augen halten: wir sind ein ganzes Stück
weitergekommen in den letzten Jahren. Viele Zuwanderer haben sich sehr
wohl etabliert und von ihnen kommt auch etwas zurück. Wir müssen sehen,
wie wir mit den anderen umgehen, wie wir diese Muster aufbrechen. Es mag
die Ablehnung der alten sozialistischen Ordnung sein, ein neuer
Konkurrenzneid, ein theoretischer Begriff von kapitalistischer Freiheit
der dem alten 'Kollektivem' entgegengesetzt wird, warum viele Zuwanderer
eine Art individualistische Ideologie haben. Da müssen Defizite
kompensiert werden und der Vergleich mit den Langansässigen weckt auch
gleich neue Bedürfnisse. Die Zuwanderer kommen mit Informationslücken und
überhöhten Erwartungen an, hatten anderseits in der Heimat einen recht
hohen Sozialstatus und stehen jetzt unter Erfolgszwang.
Strukturen der Selbstwahrnehmung und
Zuschreibungen
Ihre Ausgangssituation ist aber Arbeitslosigkeit, Wohnheim,
Desillusionierung. Nehmen wir zu all diesen Prämissen die Strukturen des
'homo sovieticus' hinzu, dann wird plausibler, daß viele die hiesige
Gegebenheiten ganz rational nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip betrachten,
vermeintliche Rechte einfordern oder auch handlungs- und
entscheidungsunfähig sind und erwarten wie vorher an die Hand genommen zu
werden, gleichzeitig aber jede hiesige Autorität ablehnt und auf alle
Angebote mit Mißtrauen reagiert, da Institutionen oder deren Vertreter aus
ihrem Verständnis das 'Andere' darstellen, für das der Einzelne keine
Verantwortung hat, das er nicht mitbestimmt, nicht verändern kann,
höchstens als 'Selbstbedienungsladen' benutzen.
Also kämpft jeder für sich und nimmt nur zur Kenntnis
oder akzeptiert nur, was ihm selber nutzt oder schadet von diesem System,
von den Gesetzen, den gesellschaftliche Strukturen. Und wenn er sein
Problem gelöst hat, sieht man ihn nie wieder. Aber wie sollen Loyalitäten
entstehen? Sozialhilfemißbrauch hat auch etwas mit mangelnder Loyalität zu
tun: Hier wieder: ich bin nicht Staatsbürger - also was interessiert es
mich. Auch innerhalb der Gemeinden: Ich hätte vielleicht
Mitbestimmungsmöglichkeiten, aber es ist ein Teufelskreis: Ich bin nicht
so sicher, ob die mich überhaupt wollen, ich durchschaue die Strukturen
nicht oder sie sind mir egal. Vielen ist es aber nicht egal, die möchten
teilhaben, kommen aber nicht klar, sind isoliert oder fühlen sich
abgelehnt.
Ohne Kommunikation mit der Umgebung wird eine
Integration aber immer nur partiell bleiben. Hier sind wir gefordert,
weiter auf die Leute zuzugehen. Bis zu einem bestimmten Punkt, denn wir
sehen auch, daß die Lebensgestaltung der Zuwanderer stark von ihnen selbst
abhängt, ob sie den Kontakt wollen oder lieber in 'Chinatown' bleiben.
Denn so wie wir Kontaktablehnungen seitens der etablierten jüdischen
Alteingesessenen haben, finden wir sie auch auf der Seite der Zuwanderer,
die unter sich bleiben wollen und eigene Substrukturen bilden.
Binnenwanderung und Substrukturen in Berlin
In anderen Bundesländern mag es anders sein, in Berlin
ist es so. Wir haben eine riesige Kettenwanderung. Die
Verwandtschaftsdichte oder Freundes- kreisdichte ist hier enorm hoch. Es
haben sich doch ganze Verbände familiär, sozial oder örtlich verbundener
Personen auf den Weg gemacht, mit all ihren Generationsfolgen. Da kommt
jemand nach Berlin und da ist der Nachbar aus der Rostow-Straße und der
vom Moskowski-Prospekt wohnt auch gleich wieder nebenan. Eigentlich hat
sich nichts geändert, alles geht weiter. Es gibt Beziehungen, die werden
einfach weiter geführt, als wären sie nicht unterbro- chen worden. Die
Zuwanderer heiraten fast nur untereinander oder holen sich Partner aus der
GUS oder aus Israel. Die Binnenintegration, wenn man das so nennen will,
ist also eigentlich sehr hoch.
Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, die mir gesagt haben: "Was brauche
ich denn die Deutschen und die Gemeinde. Na ja, sie hat die Wohnung
gegeben, daß ist eine Sache. Aber hör mal zu: Wenn ich russischen Fisch
essen gehen will, gehe ich zu dem und dem. Wenn ich ein Problem habe mit
meiner Freundin, dann gehe ich zu Aljoscha. Wenn ich ein Problem mit der
Hausverwaltung habe, komme ich in die Gemeinde. Aber ansonsten, ich
brauche das nicht. Ich kann ganz gut deutsch, aber ich brauche es nie. Ich
hab russisches Fernsehen, meine Gesellschaft, die ich habe, funktioniert
und du stellst dich hin und sagst: 'Das verstehe ich nicht, warum hockt
Ihr zusammen und macht auf Verein'." Man bleibt unter sich. Diese
Ghettoisierung ist selbst gewählt.
Fremdsegregation wäre noch ein anderes Thema. Wir können
das erst mal nicht nachvollziehen, aber wenn wir diese ganze Bedeutung von
Freundschaft, von Kollektivität, die offenbar dort funktioniert hat,
betrachten, wird es etwas klarer. Leute, die aus der DDR kommen, die
können sich dunkel daran erinnern, daß das dort einen ähnlichen
Stellenwert hatte, anders als hier, wo man drei Wochen vorher anrufen muß,
wenn man sich treffen will, wo es unanständig ist einfach so bei jemanden
zu Hause vorbei zu kommen. Das sind ganz andere Kulturmuster.
Aber daß diese Muster so gut weiter funktionieren, mag auch spezifisch für
Berlin sein. Berlin ist nah an der GUS. Hier gab es schon vor dem
Mauerfall viele russischsprachige Migranten, im Osten wie im Westen, und
entsprechende Strukturen. Die Gemeinde war vorher schon groß und hatte
bereits eine funktionierende Infrastruktur und ein großes Sozialnetz, das
eigentlich nur noch erweitert werden mußte, nicht neu gebaut, wie in
anderen Gemeinden. Mit den deutschen Aussiedlern zusammen leben inzwischen
mehr als hunderttausend russischsprachige Leute in Berlin. Wenn man sich
in Berlin zum Beispiel die Gegend um die Kantstraße ansieht, dann verdient
Charlottenburg wirklich bald wieder den Namen 'Charlottengrad', den es vor
dem Krieg hatte.
(Anm: Beim Mauerfall hatte die jüdische Gemeinde in
Westberlin 6400 Mitglieder, die Ostberliner Gemeinde etwas über 200
Mitglieder)
Dort sind die meisten Läden von jüdischen Zuwanderern und über die Hälfte
aller wohnen inzwischen in Charlottenburg und in den angrenzenden
Bezirken, Wilmersdorf und Schöneberg. Viele brauchten dazu zwei, drei,
vier Umzüge, bis sie endlich da waren, wo sie hinwollten. Auch das läßt
sich als Zeichen für Energie und Kreativität deuten. Es gab riesige
Umzugsbewegungen. In den östlichen Stadtbezirken wollte kaum jemand
wohnen. Gerade sechs Prozent der Gemeindemitglieder leben dort. Im
Hinblick auf Arbeitsplätze sieht es jedoch anders aus.
Ethnische Ökonomie
Die ganze Kulturszene und Gastronomie in Ostberlin, in Mitte in Prenzlauer
Berg, ist stark auf 'russisch-jüdisch' ausgerichtet, ob in den Hackeschen
Höfen oder im
jüdischen Kulturverein. Das macht
sich inzwischen deutlich bemerkbar im Stadtbild und vielleicht ist es auch
ein Zeichen dafür, daß die Lebensweise oder Mentalität der Ex-DDRler den
Zuwanderern näher ist oder daß sie dort eher auf Resonanz stoßen.
Hinzu kommt natürlich, daß die deutsche Bevölkerung, alles kauft, wo
'jüdisch' drauf steht, von Klezmer bis gefillte Fisch. Und wenn die
russische Szene so stark ist, wie im Kulturleben, dann heißt das
vielleicht aber auch, daß wir dem wirklich nichts entgegenzusetzen haben,
oder daß die Zuwanderer in einigen Bereichen bereits jetzt mehr Potentiale
und Flexibilität haben als wir. Da könnten auch wir etwas von lernen. Es
gibt zahlreiche russische Klubs, Restaurants, Konzerte, russische
Radiosendungen, russisches Lokalfernsehen, russische Wochenzeitschriften
und einen internen Arbeitsmarkt, eine Art 'ethnische Ökonomie', wobei
Deutsch kaum benötigt wird. Unter anderem haben die Leute auch
Bedürfnisse, die einheimische Anbieter nicht abdecken, also ein weites
Betätigungsfeld und alles auf Russisch: Videos, Bücher, Computersoft- ware,
Übersetzungsdienste, Heiratsbüros, Export-Import, Sozialstationen.
Aber sie organisieren sich auch innerhalb oder im Umfeld der Gemeinde, um
ihre Interessen durchzusetzen: die 'Gruppe 300' - das sind die über Israel
Gekommenen, die als Flüchtlinge anerkannt werden wollen und die Gemeinde
und den Senat mit Petitionen belagern - oder 'Jüdische Kammermusiker',
'Jüdische Wissenschaftler', 'Jüdische Literaten', 'Jüdische
Kriegsveteranen', 'Jüdische-was-weiß-ich'. Jeder macht einen Verein auf.
Und hier ist es dann genauso wie bei den Alteingesessenen: man bleibt
unter sich.
Zusammenfassung in soziologischer Terminologie
Das hat alles immer zwei Seiten. Ich zitiere aus meiner Studie eine
Schlußfolgerung, die ich immer noch für aktuell halte:
"Die ambivalente Umgebung und begrenzte Teilhabemöglichkeiten in ihr sind
Mitursache dafür, daß sich eine 'ethnic community' herausgebildet hat, die
weitgehend selbstorganisiert und unabhängig von außen ist. Die relative
Vollständigkeit und Größe der 'Kolonie' ermöglicht einerseits eine mentale
und teilweise soziale Absicherung sowie die Aufrechterhaltung
subkultureller Präferenzen, ist Machtbasis für Interessenschutz und
Voraussetzung für die Eingliederung, behindert sie aber gleichzeitig. Ein
erheblicher Teil der Migranten unterhält hier beinahe alle Primärkontakte
und die Mehrzahl der Sekundär- kontakte. Das Vorhandensein eigener
Netzwerke erlaubt nicht nur, Zugang zu bestimmten Bereichen zu erlangen,
sondern auch innerhalb der hergebrachten Beziehungslinie zu verbleiben und
intensivere Außenkontakte und -orientierungen von sich aus zu umgehen. Für
viele Migranten ist es somit vorläufig ausreichend, funktional
unumgängliche Basisorientierungen und -qualifikationen zu erwerben.
Denjenigen, die mit dem Versuch Arbeit, Kontakte, Akzeptanz zu finden
gescheitert sind, wird der Rückzug wiederum erleichtert. In einem Fall
bedienen, im anderen kompensiert die 'Community' die Bedürfnisse nach
Sicherheit und Reorganisation ohne Neuanpassung".
Soziale Macht- und Ohnmachtsverhältnisse
Anders gesagt: Wir brauchen uns nicht wundern, daß Zuwanderer nach zehn
Jahren Berlin kein Deutsch können oder immer wieder zu uns kommen, damit
wir ihre Probleme lösen. Wir müssen aufpassen, daß wir uns kein Eigentor
schießen. Damit tun wir uns keinen Gefallen und dem Zuwanderer auch nicht:
Dieser kommt abhängig hierher, und jetzt bedienen wir das auch noch
weiter, indem wir ihn in eine 'warme Decke' einpacken. Das ist für ihn
zunächst mal einfacher so. Für uns aber auch. Wir haben die Fäden in der
Hand und wir bestimmen, wie es lang geht. Aber wenn wir ihn dann
loslassen, dann ist er genauso weit wie am Anfang. Wir haben bei den
Seminaren in Israel gesehen, daß man dort angefangen hat, es anders zu
machen: Die Abhängigkeiten und Passivitäten zu verhindern oder abzubauen.
Die Hoffnung dabei ist natürlich auch, daß sich durch den Zwang zur
Partizipation mehr Interesse und Beteiligung entwickelt.
Patizipationsmöglichkeiten schaffen
Wir müssen uns deshalb bei jedem Detail fragen, was wir damit erreichen
oder verhindern. Dient es der Integration wirklich, wenn wir die
Gemeindezeitungen auf Russisch herausgeben? Ist es integrationsfördernd,
wenn wir unsere Beratungen immer auch auf Russisch anbieten oder wenn wir
einen Zuwanderertreffpunkt betreiben, in dem jedes Plakat, jede
Veranstaltung, jeder Kurs auf Russisch abgehalten wird? Ist es
integrationsfördernd, wenn wir inkompetente Leute einstellen, weil sie
Zuwanderer sind? Ist es ein Beitrag zur Integration, wenn wir Zuwanderern
jeden Konflikt mit ihrer Umgebung abnehmen...? Das sind viele Fragen, die
differenziert beantwortet werden müssen. Wir müssen akzeptieren, daß
jemand die Wohnung mit Ofenheizung ablehnt, wenn es so etwas in der
Sowjetunion gar nicht gab und wir können von einem Achtzigjährigen nicht
erwarten, daß er Goethe in Deutsch rezitiert.
Aber wir können zu Recht von einem 'normalen' Vierzigjährigen erwarten,
daß er nach drei Jahren Berlin das Arbeitsamt selbst anruft. Und hier
sollten wir auch aufhören zu jammern. Wenn Leute zehn Jahre hier sitzen
und immer noch nicht Deutsch können oder sich nicht in der Gemeinde
engagieren oder das Weiterbildungsangebot nicht haben wollen, das wir
ihnen ausgesucht haben, dann wollen oder brauchen sie das vielleicht
nicht. Wir sollten uns auch selbst Grenzen setzen bei unserem
'Integrationswahn'. Wir machen seit acht Jahren jedes Jahr
Pessach für Zuwanderer, also
einen Seder mit russischer Übersetzung von A bis Z. Die große
Einwanderungswelle in Berlin ist aber vorbei, das heißt, die meisten
Zuwanderer, die kommen sind zwischen fünf und neun Jahre in Deutschland.
Wie lange soll das eigentlich gehen? Das müssen wir uns doch auch fragen.
Hilfe oder Hindernis?
Das sind alles nur Denkanstöße. Und natürlich haben wir jenseits
irgendwelcher mentalen Momente die äußeren Bedingungen weiter zu
verändern, also im Beschäftigungsbereich andere Wege gehen als bei weniger
qualifizierten und als bei jüngeren Migrantengruppen oder uns dafür
einzusetzen, daß diese sinnlosen Wohnsitzbeschränkungen aufgehoben werden
und hochqualifizierte Leute aus Millionenstädten nicht gezwungen sind, in
irgendwelchen Wohnheimen in der Pampa zu versauern oder ihre Energie dafür
zu verschwenden, auf halsbrecherischen Umwegen doch nach Berlin zu kommen.
Diese Beispiele lassen sich endlos fortführen. Aber sie sollen eigentlich
nichts anderes sagen, als daß wir uns der Zweischneidigkeit unserer
Bemühungen bewußt sein sollen, weil sie nicht nur Hilfe sondern auch
Hindernis sein können, wenn wir gewohnte Verhaltensmuster nur bedienen
oder sie umgekehrt ignorieren und damit die gegenseitigen
Fehlinterpretationen, Mißverständnisse und Konflikte fördern.
Es bedeutet auch nicht, daß die Zuwanderer nicht ebenso umdenken müssen
und bestimmte Realitäten akzeptieren müssen, sondern daß wir Abweichungen
von unseren eigenen Denk- und Handlungsschemata etwas besser nachvoll-
ziehen und anders reagieren können, wenn wir uns mit dem Herkunftskontext
der Menschen, sowie den Brüchen in ihren Biographien auseinandersetzen und
daß wir unsere eigenen Verhaltensweisen und Erwartungen immer wieder
befragen sollten.
Judith Kessler ist Soziologin und hat als Magisterarbeit eine Studie zum
Thema "Integration von Zuwanderern aus den GUS-Staaten" erstellt. Neben
der Sozialarbeit mit den Zuwanderern ist ein anderer Arbeitsschwerpunkt
die redaktionelle Arbeit in der monatlich erscheinenden Zeitung der
jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Teil 1: Zuwanderer aus den GUS-Staaten
Zum Weiterlesen:
Hoffnungen und Realitäten:
Deutschland, das verheißende Land
Mission an russischen Zuwanderern:
die christliche Synagoge
die Last der fremden Brüder
Besuch in der jüd. Gemeinde in Schwerin:
die Zukunft hat eine lange Vergangenheit
Regelung der Zuwanderung:
Wer darf in Zukunft einwandern?
nicht koscher aber erfolgreich:
Rostocker Kontingentflüchtlinge gründen
Pelmeni-Fabrik
Beispiel Berlin:
Jüdische
Migration aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990
redaktionelle Bearbeitung: Iris Noah
jüdisches Leben und Juden in Berlin
das
russische Berlin und seine Infrastruktur
Judith Kessler ist Soziologin und
hat ihre Magisterarbeit zum Thema "Integration von Zuwanderern aus den
GUS-Staaten" geschrieben. Neben der Sozialarbeit mit den Zuwanderern ist
ein anderer Arbeitsschwerpunkt die redaktionelle Arbeit in der monatlich
erscheinenden Zeitung der jüdischen Gemeinde zu Berlin.
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